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LAOS

Märchen

Warum die Elefanten ihr Nest verließen

Vor nicht allzu langer Zeit sah man über den Dächern Vientianes ganze Elefantenherden schweben. Mit ihren zierlichen, aber mächtigen Körpern waren sie eine Augenweide für jeden Betrachter. Sie bauten ihre gigantischen Nester auf den Wassertürmen der Stadt und waren gern gesehene Gäste. Doch nie ließ sich eins der schüchternen, sensiblen Tiere auf der Erde nieder, denn jede Elefantenmutter warnte ihren Nachwuchs: „Hört zu, meine lieben Kleinen, nehmt euch in Acht vor den Menschen und kommt ihnen nie zu nahe. Wäret ihr erst einmal in ihren Fängen, gäbe es kein Zurück mehr.“
Geduldig hörten die Elefantenkinder ihren besorgten Müttern zu und richteten sich nach deren Ermahnungen.
Eines schönen Sommertages hielt es ein kleiner weißer Elefantenjunge vor Neugier nicht mehr aus. Er hängte seinen Rüssel über den Rand seines Nestes und schnupperte: Wie gut es doch aus den Nudelküchen der Menschen roch! „Wie gern möchte ich einmal den Luftraum verlassen und mir das Leben da unten genauer ansehen.“ Er spreizte sein Gefieder, flatterte mit den Flügeln und schwebte zur Erde herab: mitten in den Garten eines geschäftstüchtigen Schneiders.
Das schlaue Schneiderlein hegte aber gleich einen Plan aus. „Herzlich willkommen in meinem Haus“, sprach er zu dem weißen Elefanten. „Sei für heute mein Gast, ich will dir die erlesensten Speisen servieren und dir ein lukratives Angebot unterbreiten.“ Nach dem Mahl redete er seinem Gast zu: „Was für schöne Flügel du doch hast! Wie gern würde ich sie mir ausleihen und mich damit in die Lüfte erheben! Ich biete dir hier einen wunderbaren goldbestickten Sattel und zwei Paar goldene Hufe. Damit kannst du durch die Stadt traben und Kindern und Touristen, die sich auf deinem Rücken sehr wohl fühlen werden, die Umgebung zeigen. Wie glücklich war da der Elefant! Gern tauschte er seine Flügel ein gegen das verheißungsvolle Angebot seines neuen Freundes. Dieser nahm eiligst die leichten Elefantenschwingen, flog eine Runde über der Stadt und zerschellte jämmerlich an einem Felsen.
Von nun an trabte der Elefant tagein tagaus durch die Stadt. Er wuchs heran und wurde durch die ungewohnte Nahrung immer plumper und unbeholfener. Traurig blickte er umher und sehnte sich immer mehr nach Seinesgleichen. Als seine Sehnsucht so unendlich groß wurde, dass er es nicht mehr aushielt, ergriff er die Flucht und wanderte in einer stillen Mondnacht in die Berge von Nordlaos auf der Suche nach einem neuen Beginn. Er gründete eine Familie, lebte von Zuckerrohr und wohlschmeckenden Früchten lange Jahre in Frieden.
Doch der Fluch der Menschen holte ihn ein: Den Menschen wurde es in Vientiane zu eng. Sie bauten immer größere Straßen, Häuser und Fabriken und brauchten immer mehr Holz. So kamen sie auch in den Wald der Elefanten, die ihnen immer noch freundlich gesinnt waren. Sie halfen den Menschen, die schweren Baumstämme aus dem Dschungel zu ziehen und bekamen dafür eine Handvoll Zuckerrohr. Die Arbeit wurde immer schwerer, da sie immer tiefer in das Gestrüpp vordringen mussten, doch als sie sich darüber beklagten, fesselte man sie an den gewaltigen Pfoten.
Der Wald lichtete sich immer mehr und den sensiblen Tieren brach das Herz vor Kummer und Sehnsucht…

Ihre einst beflügelten Vorfahren haben die Nester auf den Türmen der Stadt verlassen und sich für immer im Himmelreich angesiedelt.

Wenn man Glück hat, findet man noch in einem kleinen Souvenirladen ein geschnitztes Abbild der einstigen Giganten.

Martina Sylvia Khamphasith

06.02.2001